Verehrter Leser
männlicher wie weiblicher Bauart, es ist eine große Schande! Früher war es noch
so einfach. Da setzte man sich irgendwo hin; auf einen Stein oder unter einen
Baum oder in eine Tonne. Dort blieb man sitzen, bei Wind und Wetter, Stunden,
Tage; der Kopf wurde auf den Arm gestützt, die Welt drehte sich ohne einen
weiter, hielt aber genau in diesem Moment inne, als der Kopf wieder erhoben
wurde, man tief Luft holte und das Universum mit solch Weisheiten wie
„Gefahrlos lässt sich Gefahr niemals überwinden…“* beglückte. Ja, früher war
das leicht. Kein Wunder, dass es heute nur mehr wenige Universalgelehrte gibt!
Der Grund dafür ist nicht unser diabolisches Wirtschaftssystem, das jeden Tag
eintausend Facharbeiterseelen verschlingen muss, um reibungslos funktionieren
zu können. Nein! Der Grund ist die vermehrte Abwesenheit von Tonnen (alle voll
mit Müll), Bäumen (überall nur mehr Parkplätze) und Steinen (Exekutivorgane
vertreiben alle Herumlungerer) in der näheren Lebensumgebung der Menschen.
Diogenes von Sinope (405 v. Chr. – ca. 320 v. Chr.) wohnte in einer Tonne und lebte die kynistische Bedürfnislosigkeit. Er war es, der zu Alexander dem Großen sagte „Geh mir aus der Sonne!“ |
Darüber hinaus:
Wie soll denn der Kopf seine freie Denkarbeit verrichten, wenn er von allen
Seiten belagert wird? Bei dem ganzen Straßenlärm, Kindergeschrei, wenn das
Mobiltelefon quiekt, der Nachbar von Ikea retour ist und seinen neuen Smørrebrød
zusammen hämmert, die Einsatzfahrzeuge mit Sirenengehall Facharbeiter zur
nächstgelegenen Seelenextraktionsstelle bringen (damit der Aktienkurs nicht
fällt!) – überall Lärm und Staub und Elektrosmog, bei allen Körperöffnungen kriecht
es schon herein; oh weh! Da bräuchte man dringendst einen Ort der absoluten
Glückseligkeit, einen locus amoenus**, liebliche Erquickung, damit die Ideen
wieder sprießen können! Die Lösung derlei Probleme ist eigentlich furchtbar
einfach, wenn man es ein Mal nur für fünf Sekunden schaffen würde, seine
verdammten Drecksfinger von Facebook/Twitter/Instagram/Outlook/GMX/G-Mail/Youtube/Youporn/blablabla
zu lassen und einen gaaanz einfachen Gedankengang zu flanieren: Was brauchen
Dinge, damit sie sprießen können? Dünger! Was ist der beste Dünger? Scheiße!
Was ist demnach der einzig verbliebene locus amoenus unserer postpostpost10-strukturalistischen
Zeit? Ein richtig beschissener!
In einer
handelsüblichen Haushaltstoilette, da ist diese armselige Welt noch halbwegs in
Ordnung. Hier die drei wissenschaftlichen Gründe dafür***:
+ Die
Abgeschlossenheit des Raumes oder beim Kacken bleibt das Fenster zu. Was
ursprünglich auf schamgefühlstechnischen Gründen basierte, hat weitreichende
Folgen. Das geschlossene Fenster verhindert nicht nur das Nachdraußendringen
der eigenen Arbeitsgeräusche, sondern auch das Eindringen jeglicher, aus der
Umwelt geborenen, Kakophonien. Das sind die perfekten Voraussetzungen für einen
selig ruhigen Ort, der parallel zum hektischen Alltagsleben existieren kann.****
Das bringt uns zum nächsten Punkt.
+ Konzentration
auf das Innere Heiligtum des Ichs. Auch wenn uns die hollywoodsche Schaumindustrie
weismachen will, dass die Damenwelt immer in Rudeln aus zumindest zwei
Identitäten die Toilette aufsucht, kackt in der Realität ein jeder Mensch alleine.
Bei der Darmentleerung ist man sich selbst am nächsten - der Stuhlgang ist
persönlicher als der Gang zum Schafott. Nirgendwo ist man dem innersten Ich
näher, als auf der porzellanenen Schale. Auf dieser Schale findet das Ich
wieder zum Ich. Nicht umsonst sagt man im Englischen „Just wipe your own ass
and shut your mouth“***** – in seiner eremitischen Abgeschiedenheit erkennt das
Ich die Verantwortung sich selbst gegenüber. Ohne die physische Barriere der
Toilettenwände kommt es regelmäßig zur spontanen Absonderung von Wortmeldungen
prekärer Natur (in Fachkreisen spricht man auch von Wortschiss oder verbalem
Durchfall). Auf der Toilette muss das, was das Ich kommuniziert, aber
zuallererst zum Eigenen in Korrelation gesetzt werden. Denn durch die totale
Abschottung von der Außenwelt bleibt einem gar nichts anderes übrig, als sich
voll und ganz auf die hauseigenen Funktionen von Körper und Geist zu konzentrieren.
Da uns dieser Konzentrationsprozess über die Jahrhunderte gänzlich fremd
geworden ist, manifestiert er sich heute oftmals auf eine schmerzliche Art und
Weise. Das trifft ganz besonders zu, wenn man zuvor scharf gegessen hat, denn
die Schärfe des Essens, bestimmt gewissermaßen die Schärfe des Geistes
(tatsächlich liegt eine direkte Proportionalität vor), da physischer Schmerz
die Konzentrationsfähigkeit steigert. Die Verbindung von Körper und Geist führt
zum dritten Punkt.
+
Wechselbeziehung der Tätigkeiten führt zu Gegenseitigkeit der Produkte. Machen
wir uns nichts vor! Umfragen bestätigen, dass in 87,460323° Prozent aller Fälle, die Toilette
nur zur Ausscheidung von Kot aufgesucht wird (ob dieses Aufsuchen spontan eintritt
oder im Vorhinein penibelst geplant wird, wurde nicht untersucht). Kot, also
ein Sammelsurium aus Stoffen, die der Körper nicht mehr benötigt, wird
abgestoßen und in die ewigen Weiten der Kanalisation abgepumpt. Dort trifft er
sich dann mit seinen Verwandten zum Plaudern. Ja, das dürfte allgemein bekannt
sein. Aber nun tritt etwas in Kraft, das der hier Schreibende als
Wechselbeziehung der Tätigkeiten erkannt hat. Denn der Unterleib ist nicht der
einzige, der auf der Toilette aktiv wird. Angeregt durch die Darmarbeit,
beginnt es auch im Kopf zu knistern. Die zwei entgegengesetzten Pole des
Körpers (obwohl man bei manchen Menschen den Eindruck hat, dass Kopf und
Dickdarm gleichgeschalten sind) lassen eine Achse aus reiner Energie entstehen.
Nun sind unsere gebrechlichen Leiber einem Energieoutput dieser Größenordnung
nicht gewachsen und reagieren darauf mit der natürlichen Methode der
Abstoßung. Am südlichen Pol wird also Kot abgestoßen, am nördlichen Pol
scheidet der Kopf aber Ideen aus! Auch sie verflüchtigen sich in der
Kanalisation der ätherischen Weltseele, wenn sie nicht schnell genug
festgehalten werden. Du magst an dieser Stelle einwerfen, verehrter Leser, dass
es sich bei Kot wohl nur um ein Abfallprodukt handelt, während Ideen zur
Reifung unserer glorreichen Zivilisation beitragen. Nun ja. Man kann im Kot
einfach nur die Scheiße sehen, die sie ist. Dabei spricht man ihm aber die
Nützlichkeit als Dünger, Baustoffmittel und Brennstoff ab. Und was die Glorie
unserer Zivilisation angeht…da sah es auch schon einmal besser aus. Ergo gibt
es auch bei den Ideen gute und einfach nur beschissene.
Mit dieser
ultimativen Weisheit beende ich den heutigen Stein des Anstoßes, verziehe mich zurück
in meine Tonne und verspreche weiterhin, ganz fest an dich zu denken, verehrter
Leser, wenn ich an meinem ganz persönlichen locus amoenus ein Geschäft
verrichte.******
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*Sokrates. Der
segensreiche Herr zeigt sich auch für Klassiker wie „Bekommst du eine gute Frau, wirst
du glücklich werden; bekommst du eine schlechte, wirst du Philosoph werden.“ verantwortlich. Seine
Frau hätte ich gerne kennen gelernt…
**lat.
lieblicher Ort; eine idealisierte Naturlandschaft, die vor allem in der Kunst
der Antike und des Mittelalters als Motiv gebraucht wird.
***Natürlich
sind es drei. Aufmerksame Leser wissen auch warum.
****Zusätzlich
ergibt sich durch die Geschlossenheit des Raums eine gar vortreffliche Akustik!
Und jeder weiß, dass Musik die Hirnsynapsen anregt - auch wenn oder vielleicht
gerade weil es sich hier im speziellen Fall um eher experimentelle
Klangkonstruktionen handelt.
*****Lässt sich
sinngemäß mit „Kümmere dich um deinen eigenen Scheiß“ übersetzen. Beachte auch
das Wischen des Pos in Verbindung mit Kreativitätstheorien. Es scheint, als
würde das Ausführen von einfachen motorischen Handlungen das kreative Denken
fördern!
******Die Alten
Römer verrichteten auf ihren öffentlichen Toiletten tatsächlich Geschäfte,
während sie sich nebeneinander sitzend erleichterten. Die Aussage „Geld stinkt
nicht“ (Pecunia non olet) stammt auch aus dem Alten Rom, und bezieht sich auf eine
Latrinensteuer, die von Kaiser Vespasian eingeführt wurde.