Freitag, 13. Dezember 2013

Trendsetter




Herr und Frau Leser!
„Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte. Die jungen Leute stehen nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch die Süßspeisen, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.“
Punks, Emos, Krocha, wie soll das nur enden? Früher war das noch anders! Oder vielleicht auch nicht. Denn dieser Ausspruch stammt von einem Mann, der einmal im alten Griechenland gelebt hat, den die Geschichte als Urvater der abendländischen Philosophie und „Meister aller Meister“ (Zitat Michel de Montaigne) in Erinnerung behielt. Dieser Mann war der weißbärtige Sokrates.* Selbiger wurde zum Tode verurteilt, weil er angeblich einen verderbenden Einfluss auf die Jugend hatte. Es ist die blanke Ironie – Alanis Morissette kann ein Lied davon singen…


Freilich war Sokrates nicht der Erste, der sich wegen aufmüpfiger Jungspunde die Haare raufen musste. Vor etwa dreitausend Jahren sitzt ein glatzköpfiger Babylonier genauso erzürnt wie traurig in einem Winckerl und meißelt das Folgende in sein Tagebuch:
„Die heutige Jugend ist von Grund auf verdorben, sie ist böse, gottlos und faul. Sie wird niemals so sein, wie die Jugend vorher, und es wird ihr niemals gelingen, unsere Kultur aufrecht zu erhalten.
Potzblitz schießt es bei diesen Worten durch meine verkalkenden Hirnwindungen. Ja natürlich ist das so! Natürlich will die Jugend nicht so sein wie ihre Eltern. Nein, niemals nicht! Denn die Kultur und Lebensweise der Eltern ist schuld, dass es keine Torte zum Frühstück gibt, man ins Bett muss, obwohl man noch gar nicht müde ist, und überhaupt und sowieso!


 Nun ist Sprache ein wesentlicher Bestandteil unserer Kultur. Darum ist es selbstverständlich, dass die Jungen sich auch in diesem Bereich abgrenzen und sich ihre eigene Sprache basteln. Was einmal flott war, wurde irgendwann hip, dann fetzig, krass oder cool oder endgeil… Wenn aus Jungendlichen (mehr oder weniger) vernünftige Erwachsene werden, mag die eine oder andere Flause aus dem Kopf geprügelt worden sein, ihre affenstarke Sprache verfolgt sie aber immer noch. Darum werden mich meine Kinder auch entsetzt ansehen, wenn ich meine old school Mucke leider geil finde.


Zu meiner Zeit war „schwul“ noch ein scheußliches Schimpfwort. Im einundzwanzigsten Jahrhundert beginnen die Vorurteile gegenüber Homosexualität gaaaaanz langsam zu bröckeln. Das Outing eines Politikers, Sportlers oder Schauspielers glich früher dem sozialen Suizid. Heute wird diesen Menschen applaudiert. Wie mutig die sind! Die stehen dazu, großartig! Die Konnotation des Wortes „schwul“(also das, was neben der eigentlichen Bedeutung des Wortes [= zum eigenen Geschlecht neigend] unweigerlich mitschwingt) beginnt sich zu verändern. Es kommt zum Wandel von der negativen zur positiven Konnotation und „schwul“ wird irgendwann als Schimpfwort ausgedient haben.


 Wir fassen zusammen:
1) Jugendliche wollen sich von Erwachsenen abgrenzen – auch in ihrer Verwendung von Sprache.
2) Die Konnotation von Wörtern ändert sich und ist (unter anderem) vom Alter des Sprachanwenders abhängig.

Das führt  nun zu der grandiosen Prognose:
1) „Sozial“ und „nachhaltig“ sind heute positiv konnotierte Wörter. Die zukünftigen Jugendlichen werden sie, angetrieben vom Wunsch nach Abgrenzung und Konfrontation, negativ konnotieren.
Beispiele:
Peter hat Susi betrogen – so ein soziales Arschloch!
Das Essen meiner Mutter schmeckt beschissen. Sie kocht total nachhaltig.
2) „Pädophil“ ist heute negativ konnotiert. Die negative Konnotation wird sich in Zukunft nicht ändern. Die zukünftigen Jugendlichen werden „pädophil“, angetrieben vom Wunsch nach Abgrenzung und Konfrontation, positiv konnotieren.
Beispiele:
Dein Vater spielt mit dir Games? Der ist ja voll pädophil!
Mein pädophiler Kumpel hat mich zu einer Party eingeladen.


Und so reiht sich der hier Schreibende ein in den Kreis der großen Propheten, mein pädophiler Leser, wohl wissend, dass in vielen Jahren die Welt voller Bewunderung feststellen wird: Der Stein des Anstoßes war seiner Zeit wieder einmal weit voraus.

So long und bis zum nächsten Mal,
R.W.

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*Disclaimer: Tatsächlich wurde das wahrscheinlich nie in genau dieser Art und Weise von Sokrates gesagt. Uns sind keine seiner Schriften überliefert. Alles, was wir über ihn wissen, stammt aus Texten seiner Schüler Platon und Xenophon. Doch die beiden machen so einen netten Eindruck, da glauben wir ihnen an dieser Stelle ganz einfach mal.


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