Herr und Frau Leser!
„Die Jugend liebt heutzutage den Luxus.
Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den
älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte. Die jungen Leute stehen
nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern,
schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch die Süßspeisen,
legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.“
Punks, Emos, Krocha, wie soll das nur
enden? Früher war das noch anders! Oder vielleicht auch nicht. Denn dieser
Ausspruch stammt von einem Mann, der einmal im alten Griechenland gelebt hat,
den die Geschichte als Urvater der abendländischen Philosophie und „Meister
aller Meister“ (Zitat Michel de Montaigne) in Erinnerung behielt. Dieser Mann
war der weißbärtige Sokrates.* Selbiger wurde zum Tode verurteilt, weil er
angeblich einen verderbenden Einfluss auf die Jugend hatte. Es ist die blanke
Ironie – Alanis Morissette kann ein Lied davon singen…
Freilich war Sokrates nicht der Erste, der
sich wegen aufmüpfiger Jungspunde die Haare raufen musste. Vor etwa dreitausend Jahren
sitzt ein glatzköpfiger Babylonier genauso erzürnt wie traurig in einem Winckerl
und meißelt das Folgende in sein Tagebuch:
„Die heutige Jugend ist von Grund auf
verdorben, sie ist böse, gottlos und faul. Sie
wird niemals so sein, wie die Jugend vorher, und es wird ihr niemals gelingen,
unsere Kultur aufrecht zu erhalten.“
Potzblitz schießt es bei diesen Worten
durch meine verkalkenden Hirnwindungen. Ja natürlich ist das so! Natürlich will
die Jugend nicht so sein wie ihre Eltern. Nein, niemals nicht! Denn die Kultur und
Lebensweise der Eltern ist schuld, dass es keine Torte zum Frühstück gibt, man
ins Bett muss, obwohl man noch gar nicht müde ist, und überhaupt und sowieso!
Nun ist Sprache ein wesentlicher
Bestandteil unserer Kultur. Darum ist es selbstverständlich, dass die Jungen
sich auch in diesem Bereich abgrenzen und sich ihre eigene Sprache basteln. Was
einmal flott war, wurde irgendwann hip, dann fetzig, krass oder cool oder endgeil…
Wenn aus Jungendlichen (mehr oder weniger) vernünftige Erwachsene werden, mag
die eine oder andere Flause aus dem Kopf geprügelt worden sein, ihre affenstarke
Sprache verfolgt sie aber immer noch. Darum werden mich meine Kinder auch
entsetzt ansehen, wenn ich meine old school Mucke leider geil finde.
Zu meiner Zeit war „schwul“ noch ein
scheußliches Schimpfwort. Im einundzwanzigsten Jahrhundert beginnen die
Vorurteile gegenüber Homosexualität gaaaaanz langsam zu bröckeln. Das Outing
eines Politikers, Sportlers oder Schauspielers glich früher dem sozialen
Suizid. Heute wird diesen Menschen applaudiert. Wie mutig die sind! Die stehen
dazu, großartig! Die Konnotation des Wortes „schwul“(also das, was neben der
eigentlichen Bedeutung des Wortes [= zum eigenen Geschlecht neigend] unweigerlich
mitschwingt) beginnt sich zu verändern. Es kommt zum Wandel von der negativen zur
positiven Konnotation und „schwul“ wird irgendwann als Schimpfwort ausgedient
haben.
Wir fassen zusammen:
1) Jugendliche wollen sich von
Erwachsenen abgrenzen – auch in ihrer Verwendung von Sprache.
2) Die Konnotation von Wörtern ändert
sich und ist (unter anderem) vom Alter des Sprachanwenders abhängig.
Das führt nun zu der grandiosen Prognose:
1) „Sozial“ und „nachhaltig“ sind heute positiv konnotierte Wörter. Die
zukünftigen Jugendlichen werden sie, angetrieben vom Wunsch nach Abgrenzung und
Konfrontation, negativ konnotieren.
Beispiele:
Peter hat Susi betrogen – so ein
soziales Arschloch!
Das Essen meiner Mutter schmeckt beschissen.
Sie kocht total nachhaltig.
2) „Pädophil“ ist heute negativ konnotiert. Die negative Konnotation
wird sich in Zukunft nicht ändern. Die zukünftigen Jugendlichen werden „pädophil“,
angetrieben vom Wunsch nach Abgrenzung und Konfrontation, positiv konnotieren.
Beispiele:
Dein Vater spielt mit dir Games? Der ist
ja voll pädophil!
Mein pädophiler Kumpel hat mich zu einer
Party eingeladen.
Und so reiht sich der hier Schreibende
ein in den Kreis der großen Propheten, mein pädophiler Leser, wohl wissend, dass
in vielen Jahren die Welt voller Bewunderung feststellen wird: Der Stein des Anstoßes
war seiner Zeit wieder einmal weit voraus.
So long und bis zum nächsten Mal,
R.W.
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*Disclaimer: Tatsächlich wurde das wahrscheinlich
nie in genau dieser Art und Weise von Sokrates gesagt. Uns sind keine seiner Schriften
überliefert. Alles, was wir über ihn wissen, stammt aus Texten seiner Schüler
Platon und Xenophon. Doch die beiden machen so einen netten Eindruck, da
glauben wir ihnen an dieser Stelle ganz einfach mal.
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