Donnerstag, 21. November 2013

Trauma

Verehrter Leser, ich war stets leidenschaftlicher Autofahrer. Nichts geht über das leise Grollen des Motors, geduldig wartend, die sanfte Betätigung des Gaspedals lässt einem die Energie spüren, die in die Maschine gepumpt wird, die Musik scheppert basslos aus den Boxen und das Lenkrad aus Lederimitat gleitet in kurvenreichen Fahrpassagen sanft durch die Hände.


Seit ich in der Innenstadt wohne, bin ich auf das Fahrrad umgesattelt und seit sie mir selbiges gestohlen haben, bin ich gezwungenermaßen zum Busfahrer geworden.* Die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel erzeugt in mir jedoch einen Zustand der Unbehaglichkeit. Hauptgründe dafür sind:

+) zu viele Menschen
+) zu viele Menschen, die ich nicht kenne
+) zu viele Menschen, die ich nicht kennenlernen will
+) zu viele Menschen, die mir verdammt nochmal auf die Pelle** rücken

Neulich musste ich in einem Zug Platz nehmen – und siehe da, gar nicht mal so unangenehm! Bequeme Sitze, leiser als ein Bus, kann man aushalten, den vielen Menschen zum Trotz. Aber dann! Plötzlich wird mir schlagartig bewusst, dass jeder Fahrgast in meiner näheren Umgebung seine Schuhe ausgezogen hat! Socken! Überall Socken! Vor mir, auf dem Sitz neben mir und bei der angrenzenden Sitzgarnitur dasselbe Bild…


Unsere Mütter haben uns beigebracht, stets frische Unterwäsche und lochfreie Socken anzuziehen – man könnte ja in einen Unfall geraten und dann würden ALLE Menschen, die bei Erstversorgung, Rettungseinsatz und Krankenhauseinlieferung anwesend sind, einen gezielten Blick auf mögliche Bremsspuren und Sockensiebe werfen können!


Verehrter Leser, der hier Schreibende ekelt sich nicht vor Socken, nein. Aber er gibt die eigenen prinzipiell nur in Schuhgeschäften öffentlich preis. Auch wenn er den Rat seiner Mutter beherzigt, fühlt er sich nicht dazu genötigt, das auch Jedem vor die Nase zu halten. Ist eine demonstrative Darbietung der eigenen Socken gegenüber Unbeteiligten wirklich nötig?


Ein immer noch schwer verstörter,
R.W.
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*Weil schon jemand gefragt hat: gemeint ist natürlich in passiver Rolle, als Mitfahrer.
**Das Wort kommt übrigens von lat. pellis – die Haut/das Fell.

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