Hallo Leser!
Du musst wissen, dass ich mich damit
abgefunden habe: Die Trendmaschinerie dieses Jahrtausends arbeitet in
ununterbrochenen Wechselschichten und ich komme einfach nicht mehr hinterher. Hundsgemein,
weil einem viel entgeht, aber man kann halt nicht an allen Hintern schnüffeln… Bewusst
wurde mir dieser Sachverhalt wieder einmal bei einer Wanderung durch das
vorweihnachtliche Graz. Gerade hielt ich kurz inne im Auge des kaufwütig
geifernden Menschenorkans, da richtete sich mein Blick auf diese entzückende Szenerie:
Herrlich! Eine neue aufregende Art seine
Hosen zu tragen! Früher endeten die Röcke kurz über dem Knie, heute beginnen
die Hosen erst darunter. Und gerade JETZT, verehrter Leser, genau in diesem
Moment, entscheide ich mich dazu abzubiegen. Wie? Was? Abbiegen? Ja, abbiegen
von der Route, die ich dieser Episode eigentlich vorherbestimmt hatte. Denn ursprünglich
wollte ich über das vermeintlich wilde Wesen der Nacktheit sprechen (keine
Angst, das wird in Bälde nachgeholt), doch als ich die Schaufenster Photographie
aus meinem Datentresor krame und mein Auge dabei darüberstreicht, klingeln
plötzlich Pummerin*, Wecker, Wohnungstür, Fahrrad, Mobiltelefon und Kasse
gleichzeitig. Der tobende Lärm scheucht etwas aus den Tiefen meines
Bewusstseins an die Oberfläche…
Im Zeitalter der Renaissance entbrennen
züngelnde Wortgefechte darüber, was denn nun die beste Kunst sei. Ist es die
Malerei? Bildhauerei? Oder die Literatur? Dreihundert Jahre lang wird gekratzt,
gebissen und gezwickt, man zieht sich gegenseitig an den Haaren und führt
erbitterte Kissenschlachten, bis Gotthold Ephraim Lessing, deutscher Denker von
vorzüglicher Güte, in die Debatte eingreift. In „Laokoon oder Über die Grenzen
der Malerei und Poesie“ attestiert er die grundsätzliche Gleichwertigkeit aller
Künste.** Bäm! Ein Schlag ins Gesicht aller Kontrahenten. Lessing geht aber
noch weiter und schafft die erste Medientheorie: Jede Kunstform untersteht
gewissen Regeln und hat Grenzen. Literatur kann Dinge machen, die der Malerei
oder Bildhauerei verwehrt bleiben und genauso verhält es sich klarer Weise auch
umgekehrt.
Zum Beispiel kann die Darstellende Kunst
keine Bewegung zeigen. „Ein Auto fährt auf einer Geraden, nimmt in einem
Kreisverkehr die erste Ausfahrt und kommt über eine Brücke in die Stadt.“ – Die
Literatur zeigt die fließende Bewegung des Autos. Die Malerei kann ohne
„unnatürliche Hilfsmittel“, so Lessing, nur einzelne Standbilder des Autos
zeigen. Das Auto auf der Geraden oder im Kreisverkehr, auf der Brücke oder in
der Stadt. Darum gibt es von den steinalten Höhlenmalereien bis ins 21.
Jahrhundert in der Darstellenden Kunst ein Phänomen, das Gleichzeitigkeit
genannt wird.
Nein, Jesus hatte keine 13
Zwillingsbrüder, aber die aufeinander folgenden Stationen des Kreuzwegs müssen
in der Darstellenden Kunst gleichzeitig
gezeigt werden, um Bewegung nachzuahmen.
Als Gestalter für visuelles Marketing
bezeichnet man jene Fachfrauen und Fachmänner, die sich der Kunst der
Dekoration verschrieben haben. Sie gestalten Geschäftsräume,
Veranstaltungsorte, mitunter auch Hotels oder Krankenhäuser und vor allem
Schaufenster. Und nun unterstelle ich dem verantwortlichen Gestalter für
visuelles Marketing der Takko Filiale Jakominiplatz 14, 8010 Graz einen wachen
Geist, denn um den SALE (= Abverkauf, Räumungsverkauf, Schlussverkauf) des
Geschäfts zu propagieren, arrangierte er die Kleiderpuppen so, dass die Hosen
von links nach rechts immer weiter gen Boden wandern. Es entsteht der Eindruck,
dass die unsichtbaren Giergriffel der kaufenden Massen die Jeans regelrecht von
den Puppen reißen, was bei diesen fabulösen Preisen auch völlig nachvollziehbar
ist. Der Herr/Frau Gestalter für visuelles Marketing thematisiert also jenen
Sachverhalt, der die Menschheit seit Jahrtausenden beschäftigt – die
Darstellende Kunst kann keine Bewegung zeigen und bedient sich der
Gleichzeitigkeit um Bewegung nachzuahmen. Meine Photographie dieses großartigen
Werks erinnerte mich an ein Gemälde aus dem 16. Jahrhundert: „Der Blindensturz“
von Pieter Bruegel dem Älteren – eine
Gruppe Blinder stürzt in einen Bach und durch die gleichzeitige Darstellung der
verschiedenen Stationen des Fallens ergibt sich eine Bewegung von links-oben
nach rechts-unten. Es war dieses Gemälde, das zuvor mit lautem Geläut aus
meinem Unterbewusstsein hervorbrach, mich zum Abbiegen verleitete und dir,
verehrten Leser, hoffentlich wieder ein amüsant geistreiches Leseabenteuer
beschert hat.
*Die Pummerin ist mit 20.130 kg und 314
cm Durchmesser die größte Glocke Österreichs, die drittgrößte Europas und die
fünftgrößte der Welt – sie macht eine Menge Lärm…
Auf der „Stimme Österreichs“ ist in
lateinischer Sprache zu lesen:
„Gegossen bin ich aus der Beute der
Türken, als die ausgeblutete Stadt nach tapferer Überwindung der feindlichen
Macht jubilierte.“ (1711)
„Geborsten bin ich in der Glut des
Brandes. Ich stürzte aus dem verwüsteten Turm, als die Stadt unter Krieg und
Ängsten seufzte.“ (1945)
„Wiederhergestellt unter Kardinal
Theodor Innitzer, über Bemühung von Heinrich Gleißner durch den Werkmeister Karl
Geisz. Geweiht der Königin von Österreich [gemeint ist die Heilige Maria],
damit ihre mächtige Fürbitte Friede sei in Freiheit.“ (1951)
**Übrigens kommt die Literatur bei
Lessing dann doch etwas besser weg als die Darstellende Kunst. Klar, denn in
seinem Herzerl war er halt ein tintenklecksender Schreiberling und kein
Malermeister.
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