Mittwoch, 15. Januar 2014

Abzweigung



Hallo Leser!
Du musst wissen, dass ich mich damit abgefunden habe: Die Trendmaschinerie dieses Jahrtausends arbeitet in ununterbrochenen Wechselschichten und ich komme einfach nicht mehr hinterher. Hundsgemein, weil einem viel entgeht, aber man kann halt nicht an allen Hintern schnüffeln… Bewusst wurde mir dieser Sachverhalt wieder einmal bei einer Wanderung durch das vorweihnachtliche Graz. Gerade hielt ich kurz inne im Auge des kaufwütig geifernden Menschenorkans, da richtete sich mein Blick auf diese entzückende Szenerie:


Herrlich! Eine neue aufregende Art seine Hosen zu tragen! Früher endeten die Röcke kurz über dem Knie, heute beginnen die Hosen erst darunter. Und gerade JETZT, verehrter Leser, genau in diesem Moment, entscheide ich mich dazu abzubiegen. Wie? Was? Abbiegen? Ja, abbiegen von der Route, die ich dieser Episode eigentlich vorherbestimmt hatte. Denn ursprünglich wollte ich über das vermeintlich wilde Wesen der Nacktheit sprechen (keine Angst, das wird in Bälde nachgeholt), doch als ich die Schaufenster Photographie aus meinem Datentresor krame und mein Auge dabei darüberstreicht, klingeln plötzlich Pummerin*, Wecker, Wohnungstür, Fahrrad, Mobiltelefon und Kasse gleichzeitig. Der tobende Lärm scheucht etwas aus den Tiefen meines Bewusstseins an die Oberfläche…


Im Zeitalter der Renaissance entbrennen züngelnde Wortgefechte darüber, was denn nun die beste Kunst sei. Ist es die Malerei? Bildhauerei? Oder die Literatur? Dreihundert Jahre lang wird gekratzt, gebissen und gezwickt, man zieht sich gegenseitig an den Haaren und führt erbitterte Kissenschlachten, bis Gotthold Ephraim Lessing, deutscher Denker von vorzüglicher Güte, in die Debatte eingreift. In „Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie“ attestiert er die grundsätzliche Gleichwertigkeit aller Künste.** Bäm! Ein Schlag ins Gesicht aller Kontrahenten. Lessing geht aber noch weiter und schafft die erste Medientheorie: Jede Kunstform untersteht gewissen Regeln und hat Grenzen. Literatur kann Dinge machen, die der Malerei oder Bildhauerei verwehrt bleiben und genauso verhält es sich klarer Weise auch umgekehrt.
Zum Beispiel kann die Darstellende Kunst keine Bewegung zeigen. „Ein Auto fährt auf einer Geraden, nimmt in einem Kreisverkehr die erste Ausfahrt und kommt über eine Brücke in die Stadt.“ – Die Literatur zeigt die fließende Bewegung des Autos. Die Malerei kann ohne „unnatürliche Hilfsmittel“, so Lessing, nur einzelne Standbilder des Autos zeigen. Das Auto auf der Geraden oder im Kreisverkehr, auf der Brücke oder in der Stadt. Darum gibt es von den steinalten Höhlenmalereien bis ins 21. Jahrhundert in der Darstellenden Kunst ein Phänomen, das Gleichzeitigkeit genannt wird.

Nein, Jesus hatte keine 13 Zwillingsbrüder, aber die aufeinander folgenden Stationen des Kreuzwegs müssen in der Darstellenden Kunst gleichzeitig gezeigt werden, um Bewegung nachzuahmen.

Als Gestalter für visuelles Marketing bezeichnet man jene Fachfrauen und Fachmänner, die sich der Kunst der Dekoration verschrieben haben. Sie gestalten Geschäftsräume, Veranstaltungsorte, mitunter auch Hotels oder Krankenhäuser und vor allem Schaufenster. Und nun unterstelle ich dem verantwortlichen Gestalter für visuelles Marketing der Takko Filiale Jakominiplatz 14, 8010 Graz einen wachen Geist, denn um den SALE (= Abverkauf, Räumungsverkauf, Schlussverkauf) des Geschäfts zu propagieren, arrangierte er die Kleiderpuppen so, dass die Hosen von links nach rechts immer weiter gen Boden wandern. Es entsteht der Eindruck, dass die unsichtbaren Giergriffel der kaufenden Massen die Jeans regelrecht von den Puppen reißen, was bei diesen fabulösen Preisen auch völlig nachvollziehbar ist. Der Herr/Frau Gestalter für visuelles Marketing thematisiert also jenen Sachverhalt, der die Menschheit seit Jahrtausenden beschäftigt – die Darstellende Kunst kann keine Bewegung zeigen und bedient sich der Gleichzeitigkeit um Bewegung nachzuahmen. Meine Photographie dieses großartigen Werks erinnerte mich an ein Gemälde aus dem 16. Jahrhundert: „Der Blindensturz“ von Pieter Bruegel dem Älteren – eine Gruppe Blinder stürzt in einen Bach und durch die gleichzeitige Darstellung der verschiedenen Stationen des Fallens ergibt sich eine Bewegung von links-oben nach rechts-unten. Es war dieses Gemälde, das zuvor mit lautem Geläut aus meinem Unterbewusstsein hervorbrach, mich zum Abbiegen verleitete und dir, verehrten Leser, hoffentlich wieder ein amüsant geistreiches Leseabenteuer beschert hat.


  
*Die Pummerin ist mit 20.130 kg und 314 cm Durchmesser die größte Glocke Österreichs, die drittgrößte Europas und die fünftgrößte der Welt – sie macht eine Menge Lärm…
Auf der „Stimme Österreichs“ ist in lateinischer Sprache zu lesen:
„Gegossen bin ich aus der Beute der Türken, als die ausgeblutete Stadt nach tapferer Überwindung der feindlichen Macht jubilierte.“ (1711)
„Geborsten bin ich in der Glut des Brandes. Ich stürzte aus dem verwüsteten Turm, als die Stadt unter Krieg und Ängsten seufzte.“ (1945)
„Wiederhergestellt unter Kardinal Theodor Innitzer, über Bemühung von Heinrich Gleißner durch den Werkmeister Karl Geisz. Geweiht der Königin von Österreich [gemeint ist die Heilige Maria], damit ihre mächtige Fürbitte Friede sei in Freiheit.“ (1951)

**Übrigens kommt die Literatur bei Lessing dann doch etwas besser weg als die Darstellende Kunst. Klar, denn in seinem Herzerl war er halt ein tintenklecksender Schreiberling und kein Malermeister.

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