Mittwoch, 29. Januar 2014

Haarige Angelegenheit



Das Wort Genie entspringt dem lateinischen "genius" (erzeugende Kraft) sowie dem griechischen "γίγνομαι" (werden, entstehen) und bezeichnet eine Person mit überragend schöpferischer Geisteskraft. Der gute Aristoteles, selbst Genie, meinte, dass der Mensch die Natur, also alles was ihn umgibt, nachahmt. Nur so kann er lernen, nur so kann er durch Kunst diese Dinge erscheinen lassen, die uns Menschen um- und antreiben. Etwa siebzehnhundert Jahre später kommt man zu dem Schluss, dass ein Genie nicht nur die Natur nachahmt, sondern das vollendet, was die Natur nicht vollenden konnte. Das Genie wird zum Schöpfer möglicher Natur, zum zweiten Gott. Der Geniekult hält sich bis ins 19. Jahrhundert, klingt danach allmählich ab. Sieht man sich nun die Geschichte an, verehrter Leser, dann erkennt man, ganz ohne Mikroskop, dass sie mit Männern genialer Bauart gespickt ist.* Aber was haben Größen wie Leonardo da Vinci, Sigmund Freud, Johannes Calvin, Sokrates, Johannes Brahms, Michelangelo, Galileo Galilei, Charles Darwin, Albrecht Dürer, Karl Marx, Konfuzius, Friedrich Nietzsche, Niccolo Paganini, Albert Einstein, Gustav Klimt, Giuseppe Verdi, [die Liste ließe sich beinahe unendlich lang weiterführen…] gemeinsam? Sie tragen allesamt Bart!


Die Bewertung von Bärten ist von Kultur zu Kultur unterschiedlich. Bei den einen steht der Bart für Kraft und Männlichkeit, bei anderen ist er Stigma der Ungebildeten und Ungepflegten. Die Pharaonen rasieren ihre Bäckchen zwar weich wie Babypopos, dennoch tragen sie künstliche Zeremonialbärte, die ihre männliche Allmacht zum Ausdruck bringen soll. Auch weibliche Pharaonen kleben sich die borstigen Attrappen ins Gesicht, was ungelehrte Augen aus der Gegenwart natürlich stutzen lässt. Die Alten Griechen sind stolz auf ihre ungezügelte Barttracht, rasieren sich nur aus Trauer oder zur Strafe. Damit man im Kampf den Feind vor lauter Haaren trotzdem sieht, kürzen Soldaten ihre Bärte. Aber eines Tages kommt der Übergroße Alexander des Weges, übernimmt die Macht im ägäischen Raum und nach makedonischer Sitte beginnen sich die Griechen zu rasieren. Was? Alle Griechen? Nein! Denn eine gar nicht mal so kleine Bande setzt sich heftig zur Wehr – die Philosophen. Sie tragen weiterhin lange Bärte (und lange Haare ebenso, diese Hippies!). Die Römer rasieren sich zunächst auch nicht. Doch reger Kontakt zu den Griechen bewirkt, dass sich der Rasurtrend dieser ausländischen Teufel auf dem Stiefel ausbreitet.

Der römische Stiefel vor...
...und nach dem Einfluss der Griechen

Im Alten Testament (Levitikus 19, 27) steht geschrieben: „Ihr sollt euer Haar am Haupt nicht rundherum abschneiden noch euren Bart stutzen.“ Dies zeigt die Ablehnung der Israeliten gegen heidnische Haar- und Barttrachten mit religiöser Bedeutung. Der katholische Klerus ist überwiegend glattrasiert, ein Erbe des römischen Stiefels, bei den Orthodoxen trägt man nach wie vor flauschige Weihnachtsmannbärte. Nicht nur in christlichen Klöstern gibt es fest vorgeschriebene Rasurzeiten.** Verheiratete Amische, Quäker und Mormonen lassen ihren Vollbart ohne Schnauzer sprießen. Das symbolisiert Frieden und Freigeist, weil der Schnauzer das bevorzugte Gesichtsfelldesign von Militär und Polizei ist.


In der europäischen Neuzeit hat der Bart seine kultische Bedeutung schon größtenteils verloren. Die gängige Barttracht, beziehungsweise das Fehlen selbiger, richtet sich nach dem Vorbild des jeweiligen Herrschers. Das 19. Jahrhundert ist das Jahrhundert des Bartes. Der stattliche Gesichtsfilz wird zum Symbol der Verbundenheit mit dem einfachen Volk. Der Intellektuelle bleibt unrasiert zum Zeichen der Kritik und der revolutionären Gesinnung. Der Herrscher will sich dem einfachen Mann von der Straße anpassen und schickt den Barbier nach Hause. Daraus folgt: Jeder trägt Bart, jeder ist glücklich (bis auf die Barbiere vielleicht). Durch den Ersten Weltkrieg ist es mit der glücklich bärtigen Zeit schlagartig vorbei. Haare im Gesicht verhindern ein schnelles und problemloses Anlegen vom Gummizuz (Gasmaske), was zu vermehrten Fällen des tot Seins führt. Die Erfindung des ersten Wegwerfrasierers im Jahre 1901 von Gillette und ein zweiter Weltkrieg lassen den Bart bis auf Weiteres aus den Männergesichtern verschwinden. In den 1970ern erfolgt ein behaartes Revival. Unter der Gegenkultur der Beatniks (die ursprünglichen Hipster) und Hippies steht das ungemähte Barthaar für Individualität und Querdenkertum. Seit den letzten drei Jahrzehnten stoppeln vermehrt kratzige Drei-Tage-Bärte und das vorläufige Ende der Geschichte ist erreicht. Ja, verehrter Leser, so ist der männliche Urwuchs zu einem Mode-Accessoire verkommen.

Miami Vice Charakter Sonny Crockett 1984-1990 und 2006

Barba non facit philososphum – ein Bart macht noch keinen Philosophen hat Aulus Gellius, lateinischer Schriftsteller des 2. Jahrhunderts, einmal gesagt und er muss es ja wissen, war er doch beides: genialer Philosoph und Barträger. Trotzdem scheint eine stattliche Gesichtsbehaarung schon einmal die halbe Miete zu sein. Das meint zumindest der hier Schreibende, wenn er sich allmorgendlich im Spiegel betrachtet.


*Ach ja?! Nur mit MÄNNERN??? Ja, nur mit Männern, weil man in der Antike meinte, der geniale Saft wohnt nur im Manne, verstärkt seine Persönlichkeit und Zeugungskraft. In der Moderne gestattete man auch Frauen ein gewisses Maß an Genialität zu – allerdings als Gegenstück zum weiblichen Pol. Es galt sich also zu entscheiden zwischen Frau- oder Genie-Sein und unter dem Druck der Männer entschieden sich viele für das Erstere.

**Übrigens ist der Ursprung der Tonsur, der typischen Haarkranzfrisur der Mönche, umstritten. Wahrscheinlich handelt es sich um eine symbolische Öffnung des Schädels, damit Gott besser in die Köpfe sehen kann, Dämonen besser entweichen und der Heilige Geist noch stärker flasht.



Post Scriptum:
Der Stein des Anstoßes hat seit kurzem auch auf Facebook ein Zuhause gefunden. Für eine Extraportion Herz-Hirn-Calgonit, einfach klingeln!




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