Mittwoch, 22. Januar 2014

Nackte Wahrheit


Neulich zog ich gemütlich meine Längen in der städtischen Badeanstalt. Im Zickzack ging es durch Horden von Kindern, Rentnern und übermotivierten Halbprofis*. Als ich zwischen die Fronten zweier athletischer Flussdampfer geriet und dabei literweise Chlor inhalieren musste, wurde mir die Sache zu bunt. Flugs zog ich mich in den Umkleidebereich zurück, wo sich mein Unglück fortsetzen sollte. Anscheinend war ich nicht der einzige Hobbyplantscher, der sich vom rüpelhaften Benehmen der Übermotivierten bedroht fühlte und lieber die Flucht ergriff, denn vor der Umkleidekabine türmten sich die Wartenden bis an die Decke. Was tun? Anstellen und warten? Ich bin in Eile! Ratzfatz die Hosen in aller Öffentlichkeit wechseln? Versteh mich nicht falsch, verehrter Leser, ich bin kein Kind von Traurigkeit, ausgestattet mit reichlich Selbstvertrauen, aber das heißt nicht, dass ich meinen Kindermacher allem und jedem unter den Riechkolben halten muss. Vor meinem geistigen Auge sah ich eine Gruppe Anthropologen heran schreiten. Diese Wissenschaftler, die ihr ganzes Leben dem Studium des Menschen in all seinen Facetten widmen, zeigen mit ihren knochigen Fingern auf mich, nicken und sind sich einig: „Sehet diesen Mann dort, der zögert sich zu entblößen, er soll uns als Beispiel dienen, dass die Zivilisationstheorie der Wahrheit entspricht. Kultiviert über einen viertausend Jahre hinweg dauernden Zivilisationsprozess, empfindet er Scham. Ein schamloser Wilder hätte sich die Kleider ohne Zaudern heruntergerissen, sofern er denn überhaupt welche getragen hätte.“ Und dann beginnen sie zu frohlocken, lachen leise in ihre dicken Bärte und glucksen. „Aber nein! Das ist doch falsch!“ Doch sie können mich nicht hören und ich tropfe langsam vor mich hin.





Es gibt einen Mann, der heißt Hans Peter Duerr. In seinem über dreitausendfünfhundert Seiten starken Hauptwerk „Der Mythos vom Zivilisationsprozess“ versucht er die Zivilisationstheorie von seinem geschätzten Kollegen Norbert Elias zu stürzen. In Hans Peters Augen war der Mensch nie anstößig und ohne Scham. Denn schon Adam und Eva schlüpfen geschwind in bequeme Feigenblätter. Antike Helden erblinden, wenn sie nackte Göttinnen bespechteln. Odysseus, nach einem Schiffbruch nackt an Land gespült, seine Kleider zerfetzt im Meer, salzverkrustet und geplagt von Durst, bricht als allererstes einen Zweig vom Baum, um seinen Lümmel zu verhüllen – es könnte ihm ja ein Mädchen über den Weg laufen. Die Alten Griechen und die Nacktheit, das ist sowieso eine eigene Geschichte. Die Hellenen kämpften und sportelten ganz gerne nackig.** Das heißt aber nicht, dass man tagein tagaus mit blankem Hinterteil unterwegs war. Nein, man war sich nur dem Ausnahmezustand von Krieg und Wettkampf bewusst und man kleidete sich dabei nicht in Gewänder, sondern in Regeln. Zum Beispiel war das Hinterlassen vom Pobackenabdruck im Sand verboten (immer brav verwischen!). Der Penis musste zu jeder Zeit von der Vorhaut bedeckt bleiben, wurde darum mit einer Schnur zusammengebunden - wie eine Blutwurst.





Auf der Suche nach dem Gral kommt Ritter Parzival in eine prekäre Situation. Gemütlich vor sich hin badend, erscheint plötzlich ein Rudel Jungfrauen. Sie hoffen einen Blick auf Parzivals Breitschwert zu erhaschen. Doch die Wasseroberfläche ist, gemäß der Sitte, mit Rosenblättern*** bedeckt. In mittelalterlichen Badehäusern herrschte grundsätzlich Geschlechtertrennung. Gleichwohl stieg man gerne in Unterhosen (Männer) oder langen Hemden (Frauen) ins Wasser. Wer dabei erwischt wurde, wenn er sich,  fern von fremden Blicken wähnend, hüllenlos in Seen und Teichen vergnügte, dem drohte die Rute oder ein Kurzurlaub in Kerkern mit den heimeligen Namen „Hundeloch“ und „Taubenhäuslein“. Den Besitzer einer anrüchigen Badeeinrichtung trieb man splitterfasernackt durch die Stadt, bevor er für ein Jahr verbannt wurde. Ehemann und Ehefrau begaben sich stets in weiten Unterhemden in Richtung Lacken. Die zeitgemäße Frau trug dabei eine Version mit Spezialschlitz, die eine Begattung mit einem Minimum an Entblößung zuließ.





Auch Naturvölker haben Schamgefühl, obwohl sie im (halb-)nackten Zustand ihr Leben bestreiten. Der geschätzte Elias würde in Schockstarre geraten, wenn er in Indochina eine Familie beim Baden sehen würde. Alle nackt! Mann, Frau und Kind! Er weiß nicht, dass es Sitte ist, den Blick dabei über die anderen hinweg oder hindurch zu richten. Bei den Kwoma in Neuguinea wird den kleinen Buben eingetrichtert: „Schaue niemals auf der Frauen Etwas!“ Bei den Dayak auf Borneo muss man eine Geldstrafe verrichten, wenn man Frauen/Männer mit dem „anderen Blick“ fixiert. Das schambesetzte Schauen erschafft phantomhafte Schutzanzüge! Die Yagua Rothaut des Amazonas dreht sich im Inneren einer Hütte der Hauswand zu und signalisiert dadurch: Ich bin nicht da. Ich kann nicht gesehen werden. Mit mir kann nicht gesprochen werden. Er schafft eine Phantomwand, hinter die sich die Paare, die in derselben Hütte wohnen, für die gewissen Stunden zurück ziehen können.





Der photographische Blick der Moderne kann diese Phantombarrieren nicht erkennen. „Der Mensch war niemals schamlos“, sagt Hans Peter. Ich gebe ihm recht und drehe das Rädchen ein wenig weiter. „Der Mensch war niemals schamloser“, sagt der hier Schreibende. Statt unseren Blick durch den Nackten hindurch, lenken wir ihn heute gezielt auf die delikaten Stellen des Bekleideten. Ja, wir wählen unsere Bekleidung bewusst so, um möglichst vom „anderen Blick“ fixiert zu werden. Menschen ziehen sich in Reality-Shows Kleider wie auch Seele aus und wir schauen alle gebannt zu. Davon habe ich genug. Ich baue mir eine Phantombarriere, schlüpfe aus der nassen Badehose und gehe nackt an den verdutzten Anthropologen vorbei nach Hause.

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*Man erkennt sie an folgenden Merkmalen, aufsteigend nach Gefährlichkeitsgrad: Schwimmbrille, Badehaube, Speedo, Trinkflasche, wasserdichter MP3 Player.

**Man stelle sich vor: Das Jahr 2014. Zwei nackte männliche Ringkämpfer umschlingen sich im regenbogenlosen Sotschi.

***Alternativ benutzte man auch Blätter, Sägespäne, Vorhänge und Wannendeckel.


Post Scriptum:
Der Stein des Anstoßes hat seit kurzem auch auf Facebook ein Zuhause gefunden. Für eine Extraportion Herz-Hirn-Calgonit, einfach klingeln!

2 Kommentare:

  1. Lieber R.W.,
    ich bin sowas von entzückt und zutiefst in ein langes Lachen getaucht und kann mein anhaltendes Schmunzeln kaum zurück halten, sodass ich wieder einen Eintrag für einen deiner sich (wirklich) steigernden Blog-Beiträge hinterlassen möchte oder muss. Heute ist seit langem wieder ein Schwimmbesuch in dem städtischen Hallenbad geplant und meine Badesachen (nicht der Marke Speedo) samt Schwimmbrille sind bereits unter meinem Schreibtisch gepackt, habe aufgrund des arbeitsreichen Tages schon überlegt dieses Vergnügen abzusagen, aber dank deines Eintrages halten mich nun keine zehn Pferde davon ab! Aus meiner Erfahrung in diesem Bad kann ich dir nur in vollen Zügen zustimmen, jedoch habe ich es noch nie gewagt nackt das Bad zu verlassen. Dafür kriegst du von mir ein extra +. Weiter so und danke für den ausgezeichnet recherchierten und amüsanten Beitrag, heute keine Kritiken - vielmehr hast du mich dazu angetrieben einiges über die Nacktheit von Früher bis Heute, mit und ohne Religionshintergründen und die verschiedenen Völker der Welt, die dies heute noch machen, nachzulesen. Danke für diesen Anstoß!! Alles Liebe ./J

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  2. Verehrte J,
    deine herzlichen Kommentare sind wie große Pflaster mit kleinen Bärchen (manche würden auch einfach Balsam sagen) auf die geschundene Seele des hier Schreibenden. Vielen lieben Dank dafür! Ich wünsche weiterhin heiteren Lese- & Badespaß und hoffe, dass ich dich auch in Zukunft zum Schmunzeln, Lachen und Nachdenken bewegen kann.
    Mit besten Grüßen, R.W.

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