Neulich zog ich gemütlich meine Längen
in der städtischen Badeanstalt. Im Zickzack ging es durch Horden von Kindern,
Rentnern und übermotivierten Halbprofis*. Als ich zwischen die Fronten zweier
athletischer Flussdampfer geriet und dabei literweise Chlor inhalieren musste,
wurde mir die Sache zu bunt. Flugs zog ich mich in den Umkleidebereich zurück,
wo sich mein Unglück fortsetzen sollte. Anscheinend war ich nicht der einzige
Hobbyplantscher, der sich vom rüpelhaften Benehmen der Übermotivierten bedroht
fühlte und lieber die Flucht ergriff, denn vor der Umkleidekabine türmten sich
die Wartenden bis an die Decke. Was tun? Anstellen und warten? Ich bin in Eile!
Ratzfatz die Hosen in aller Öffentlichkeit wechseln? Versteh mich nicht falsch,
verehrter Leser, ich bin kein Kind von Traurigkeit, ausgestattet mit reichlich
Selbstvertrauen, aber das heißt nicht, dass ich meinen Kindermacher allem und
jedem unter den Riechkolben halten muss. Vor meinem geistigen Auge sah ich eine
Gruppe Anthropologen heran schreiten. Diese Wissenschaftler, die ihr ganzes
Leben dem Studium des Menschen in all seinen Facetten widmen, zeigen mit ihren
knochigen Fingern auf mich, nicken und sind sich einig: „Sehet diesen Mann
dort, der zögert sich zu entblößen, er soll uns als Beispiel dienen, dass die
Zivilisationstheorie der Wahrheit entspricht. Kultiviert über einen viertausend
Jahre hinweg dauernden Zivilisationsprozess, empfindet er Scham. Ein schamloser
Wilder hätte sich die Kleider ohne Zaudern heruntergerissen, sofern er denn
überhaupt welche getragen hätte.“ Und dann beginnen sie zu frohlocken, lachen
leise in ihre dicken Bärte und glucksen. „Aber nein! Das ist doch falsch!“ Doch
sie können mich nicht hören und ich tropfe langsam vor mich hin.
Es gibt einen Mann, der heißt Hans
Peter Duerr. In seinem über dreitausendfünfhundert Seiten starken Hauptwerk
„Der Mythos vom Zivilisationsprozess“ versucht er die Zivilisationstheorie von
seinem geschätzten Kollegen Norbert Elias zu stürzen. In Hans Peters Augen war
der Mensch nie anstößig und ohne Scham. Denn schon Adam und Eva schlüpfen geschwind
in bequeme Feigenblätter. Antike Helden erblinden, wenn sie nackte Göttinnen
bespechteln. Odysseus, nach einem Schiffbruch nackt an Land gespült, seine
Kleider zerfetzt im Meer, salzverkrustet und geplagt von Durst, bricht als
allererstes einen Zweig vom Baum, um seinen Lümmel zu verhüllen – es könnte ihm
ja ein Mädchen über den Weg laufen. Die Alten Griechen und die Nacktheit, das
ist sowieso eine eigene Geschichte. Die Hellenen kämpften und sportelten ganz
gerne nackig.** Das heißt aber nicht, dass man tagein tagaus mit blankem
Hinterteil unterwegs war. Nein, man war sich nur dem Ausnahmezustand von Krieg
und Wettkampf bewusst und man kleidete sich dabei nicht in Gewänder, sondern in
Regeln. Zum Beispiel war das Hinterlassen vom Pobackenabdruck im Sand verboten
(immer brav verwischen!). Der Penis musste zu jeder Zeit von der Vorhaut
bedeckt bleiben, wurde darum mit einer Schnur zusammengebunden - wie eine
Blutwurst.
Auf der Suche nach dem Gral kommt
Ritter Parzival in eine prekäre Situation. Gemütlich vor sich hin badend,
erscheint plötzlich ein Rudel Jungfrauen. Sie hoffen einen Blick auf Parzivals
Breitschwert zu erhaschen. Doch die Wasseroberfläche ist, gemäß der Sitte, mit
Rosenblättern*** bedeckt. In mittelalterlichen Badehäusern herrschte
grundsätzlich Geschlechtertrennung. Gleichwohl stieg man gerne in Unterhosen
(Männer) oder langen Hemden (Frauen) ins Wasser. Wer dabei erwischt wurde, wenn
er sich, fern von fremden Blicken
wähnend, hüllenlos in Seen und Teichen vergnügte, dem drohte die Rute oder ein
Kurzurlaub in Kerkern mit den heimeligen Namen „Hundeloch“ und „Taubenhäuslein“.
Den Besitzer einer anrüchigen Badeeinrichtung trieb man splitterfasernackt
durch die Stadt, bevor er für ein Jahr verbannt wurde. Ehemann und Ehefrau begaben
sich stets in weiten Unterhemden in Richtung Lacken. Die zeitgemäße Frau trug
dabei eine Version mit Spezialschlitz, die eine Begattung mit einem Minimum an
Entblößung zuließ.
Auch Naturvölker haben Schamgefühl,
obwohl sie im (halb-)nackten Zustand ihr Leben bestreiten. Der geschätzte Elias
würde in Schockstarre geraten, wenn er in Indochina eine Familie beim Baden
sehen würde. Alle nackt! Mann, Frau und Kind! Er weiß nicht, dass es Sitte ist,
den Blick dabei über die anderen hinweg oder hindurch zu richten. Bei den Kwoma
in Neuguinea wird den kleinen Buben eingetrichtert: „Schaue niemals auf der
Frauen Etwas!“ Bei den Dayak auf Borneo muss man eine Geldstrafe verrichten,
wenn man Frauen/Männer mit dem „anderen Blick“ fixiert. Das schambesetzte
Schauen erschafft phantomhafte Schutzanzüge! Die Yagua Rothaut des Amazonas
dreht sich im Inneren einer Hütte der Hauswand zu und signalisiert dadurch: Ich
bin nicht da. Ich kann nicht gesehen werden. Mit mir kann nicht gesprochen
werden. Er schafft eine Phantomwand, hinter die sich die Paare, die in
derselben Hütte wohnen, für die gewissen Stunden zurück ziehen können.
Der photographische Blick der Moderne
kann diese Phantombarrieren nicht erkennen. „Der Mensch war niemals schamlos“,
sagt Hans Peter. Ich gebe ihm recht und drehe das Rädchen ein wenig weiter.
„Der Mensch war niemals schamloser“, sagt der hier Schreibende. Statt unseren
Blick durch den Nackten hindurch, lenken wir ihn heute gezielt auf die delikaten
Stellen des Bekleideten. Ja, wir wählen unsere Bekleidung bewusst so, um
möglichst vom „anderen Blick“ fixiert zu werden. Menschen ziehen sich in
Reality-Shows Kleider wie auch Seele aus und wir schauen alle gebannt zu. Davon
habe ich genug. Ich baue mir eine Phantombarriere, schlüpfe aus der nassen
Badehose und gehe nackt an den verdutzten Anthropologen vorbei nach Hause.
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*Man erkennt sie an folgenden
Merkmalen, aufsteigend nach Gefährlichkeitsgrad: Schwimmbrille, Badehaube,
Speedo, Trinkflasche, wasserdichter MP3 Player.
**Man stelle sich vor: Das Jahr 2014. Zwei
nackte männliche Ringkämpfer umschlingen sich im regenbogenlosen Sotschi.
***Alternativ benutzte man auch
Blätter, Sägespäne, Vorhänge und Wannendeckel.
Post Scriptum:
Der Stein des Anstoßes hat seit kurzem
auch auf Facebook ein Zuhause gefunden. Für eine Extraportion
Herz-Hirn-Calgonit, einfach klingeln!
Lieber R.W.,
AntwortenLöschenich bin sowas von entzückt und zutiefst in ein langes Lachen getaucht und kann mein anhaltendes Schmunzeln kaum zurück halten, sodass ich wieder einen Eintrag für einen deiner sich (wirklich) steigernden Blog-Beiträge hinterlassen möchte oder muss. Heute ist seit langem wieder ein Schwimmbesuch in dem städtischen Hallenbad geplant und meine Badesachen (nicht der Marke Speedo) samt Schwimmbrille sind bereits unter meinem Schreibtisch gepackt, habe aufgrund des arbeitsreichen Tages schon überlegt dieses Vergnügen abzusagen, aber dank deines Eintrages halten mich nun keine zehn Pferde davon ab! Aus meiner Erfahrung in diesem Bad kann ich dir nur in vollen Zügen zustimmen, jedoch habe ich es noch nie gewagt nackt das Bad zu verlassen. Dafür kriegst du von mir ein extra +. Weiter so und danke für den ausgezeichnet recherchierten und amüsanten Beitrag, heute keine Kritiken - vielmehr hast du mich dazu angetrieben einiges über die Nacktheit von Früher bis Heute, mit und ohne Religionshintergründen und die verschiedenen Völker der Welt, die dies heute noch machen, nachzulesen. Danke für diesen Anstoß!! Alles Liebe ./J
Verehrte J,
AntwortenLöschendeine herzlichen Kommentare sind wie große Pflaster mit kleinen Bärchen (manche würden auch einfach Balsam sagen) auf die geschundene Seele des hier Schreibenden. Vielen lieben Dank dafür! Ich wünsche weiterhin heiteren Lese- & Badespaß und hoffe, dass ich dich auch in Zukunft zum Schmunzeln, Lachen und Nachdenken bewegen kann.
Mit besten Grüßen, R.W.